DER RIESENCODEX HILDEGARDS VON BINGEN

Der Riesencodex Hildegards von Bingen

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Der sogenannte „Riesencodex“, früher auch „Codex mit der Kette“ genannt, ist das zentrale Vermächtnis Hildegards von Bingen. Nicht nur der für eine mittelalterliche Handschrift sehr ungewöhnliche enorme Umfang (481 Blätter, 460 x 300 mm, Gewicht ca. 15 kg) haben ihn im Lauf der Jahrhunderte regelrecht zu einer „Reliquie und Ikone ihres Geistes“ (Embach S. 57) werden lassen. Grund dafür ist auch die für das Mittelalter ebenfalls ungewöhnliche, dem Codex zugrunde liegende Idee einer enzyklopädisch geordneten Gesamtausgabe der Schriften Hildegards.

Sie selbst oder zumindest ihre unmittelbaren Nachfahren müssen die hier zusammengestellten Werke als die Quintessenz ihres Schaffens angesehen haben. Es ist nicht ganz sicher, ob der Codex noch zu ihren Lebzeiten (1098-1179) oder kurz danach entstanden ist. Unbestritten ist hingegen, dass zumindest Teile davon mit ihrem Wissen und ihrer Billigung in Angriff genommen wurden. In einem arbeitsteiligen Prozess entwarfen fünf bis sechs verschiedene Schreiber ihres Klosters Rupertsberg bei Bingen mehrere Teilwerke, die später zu einem „Sammelband“ zusammengeführt wurden. Der Einband (zwei mit Schweinsleder überzogene Holzdeckel) wie auch die berühmte Kette stammen wahrscheinlich nicht aus Hildegards Zeit, sondern eher aus dem 15. oder 16. Jahrhundert.

Im Einzelnen enthält der Codex

  • die Visionstrilogie (Scivias, Liber vitae meritorum und Liber divinorum operum),
  • das gesamte musikalische Werk (Symphonia, Ordo virtutum),
  • die umfassendste Überlieferung der Briefe (Epistolarium),
  • die sprachkundlich-experimentellen Schriften (Lingua ignota, Litterae ignotae),
  • die Expositiones evangeliorum (eine fragmentarische Sammlung von Homilien),
  • die Lebensbeschreibung (Vita Hildegardis) der Mönche Gottfried und Theoderich,
  • den Brief an die Mainzer Prälaten (Ad praelatos Moguntinenses)

Außerdem ist ein theologische Fragen behandelnder „Brief der Villarenser Mönche nach dem Tode Hildegards“ enthalten (gemeint ist die Zisterzienserabtei Villers-la Ville in Brabant).

In der Einbandmakulatur findet sich ein Fragment eines zeitgenössischen Graduale (Scans auf "Fragmentarium").

Auffällig ist, dass kein einziges von Hildegards medizinisch-naturkundlichen Werken enthalten ist. Man kann deshalb nicht ausschließen, dass ein weiteres (nicht erhaltenes) kompilatorisches Werk der Hildegard-Schriften existierte.

Der Riesencodex wurde bis 1632 an seinem Entstehungsort, dem Binger Rupertsberg, aufbewahrt. Nach der Plünderung des Klosters durch die Schweden (beschrieben vom Bruder der letzten Äbtissin, Caspar Lerch von Dirmstein, auf fol. 1r) gelangte der Codex in das Tochterkloster Eibingen auf der gegenüberliegenden Rheinseite. Im Zuge der Säkularisierung erhielt die neu gegründete „Öffentliche Bibliothek“ in Wiesbaden, der Hauptstadt des Herzogtums Nassau, im Jahre 1814 den Codex.

Im Zweiten Weltkrieg wurde der Codex von der Bibliothek zusammen mit anderen wertvollen Stücken in das vermeintlich sichere Dresden ausgelagert. Gleich mehreren Glücksfällen und einigen engagierten Personen in Dresden und Wiesbaden ist es zu verdanken, dass der Riesencodex im Frühjahr 1948 wieder in die Landesbibliothek wanderte, wo er noch heute aufbewahrt wird.

Zur weiteren Orientierung:

Detaillierte Beschreibung des Riesencodex (G. Zedler 1931)

Lit.: Michael Embach: „Der Riesencodex“ in ders.: Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Berlin 2003, hier S. 36-65 (Erudiri sapientia, IV)
(Ebook im Netz der HLB RheinMain)