WIESBADENER TAGBLATT 1905-1918
Wiesbadener Tagblatt
Das „Wiesbadener Tagblatt“ erschien in Nachfolge des 1808 gegründeten Wiesbadener Wochenblatts erstmals am 1. Oktober 1852. Verlegt wurde es damals von dem Hofbuchdrucker August Schellenberg, dessen Familie die Geschichte der Zeitung über lange Zeit prägen sollte. Mit einer kriegsbedingten Unterbrechung von 1943 bis 1949 hat das „Tagblatt“ bis heute die Geschicke Wiesbadens begleitet und ist damit eine erstklassige Quelle für die regionalgeschichtliche Forschung.
Die hier zugänglichen Jahrgänge von 1900 bis 1933 sind in doppelter Hinsicht besonders lesenswert, denn sie geben Einblick in eine Boomphase sowohl der Zeitung als auch der „Weltkurstadt“ Wiesbaden und ihren jähen Absturz nach 1918. Das „Tagblatt“ bezogen im Jahre 1909 unglaubliche 27.000 Haushalte; bei 109.000 Einwohnern (was ungefähr 30.000 Haushalten entsprach) lag die Abdeckung also bei 90%! Die hohe Zahl erklärt sich auch durch den sehr erschwinglichen Preis von 50 Pfennig monatlich für ein Abonnement – damals etwa der Gegenwert von 1,5 Kilo Brot. Dieser Preis wurde, wie bei allen Zeitungen des damals neuen Typs „Generalanzeiger“, vor allem durch den umfangreichen Anzeigenteil ermöglicht. Aufgrund der hohen Kaufkraft der Wiesbadener rangierte das Anzeigenaufkommen des Tagblatts deutschlandweit auf Platz 8.
Für große Umbrüche bei Layout wie auch Inhalten sorgte als Inhaber nach 1890 Louis Schellenberg, der Sohn August Schellenbergs, in fruchtbringender Zusammenarbeit mit dem weltläufigen Chefredakteur Walter Schulte vom Brühl. Die beiden machten die Zeitung vom „Blättchen“, wie sie davor gerne genannt wurde, zum wichtigen politischen Mitspieler „zwischen Nationalliberalismus und Freisinn“, wie es Schulte vom Brühl später selbst ausdrückte (Schulte vom Brühl, 1918, S. 224). Neu war auch, daß die nun 29x44 cm messende Zeitung zwei Mal täglich erschien, mit einer eher der Unterhaltung gewidmeten Morgen- und einer eher politischen Abendausgabe.
Für mehrere Ressorts lockte der Literat Schulte vom Brühl überregional bekannte Intellektuelle zum „Tagblatt“, so den Musikdirektor und Professor Otto Dorn für die Musikkritik, den Wiener Essayisten Joseph Kaisler für das Feuilleton, sowie den Ernst Haeckel nahestehenden Biologen Walther May, der durch seine darwinistisch geprägten Meinungen des öfteren den ansässigen Klerus vergrätzte. Für die besonders geschätzten monatlichen Rückblicke in Versform gewann Schulte den „Sprudeldichter“ Julius Rosenthal. Der später als Landeshistoriker bekannt gewordene Landwirt Heinrich Diefenbach wurde für die Lokalredaktion gewissermaßen „entdeckt“. Im Fortsetzungsroman liefen parallel je ein literarisch wertvolleres Werk und „ein rechter Reißer, der in der Menge verschlungen wurde und in jeder Küche Lob erntete“ (Schulte vom Brühl, S.230).
Der Aufschwung des Tagblatts manifestiert sich in unserem Zeitabschnitt durch den 1904 begonnenen Neubau des „Tagblatthauses“ (heute Langgasse 21) auf dem Thermalwasserboden über der alten „Heidenmauer“, dessen Fertigstellung die Ausgabe vom 24. Oktober 1909 vermelden konnte. Das Haus bot modernste Technik für die Redakteure (etwa eine Telefonanlage!), daneben aber auch überdurchschnittlichen Komfort für die Mitarbeiter – man nutzte den besonderen Baugrund und richtete Wasch- und Baderäume, ja sogar Brausebäder ein. Im Sommer wurde für alle eisgekühltes Faulbrunnenwasser gereicht. Doch nicht nur das bemerkenswerte Tagblatthaus entstand Anfang des Jahrhunderts in Wiesbaden. Die enthaltenen Jahrgänge dokumentieren auch ansonsten die Meilensteine der Entwicklung zur „Weltkurstadt“, wie etwa die Einweihung des Hauptbahnhofs im November 1906 (Sonderbeilage in der Ausgabe vom 12. November 1906), des Kurhauses (11. Mai 1907), des Landeshauses für den Kommunallandtag (27. Mai 1907), der Lutherkirche (8. November 1911), des Kaiser-Friedrich-Bads (25. März 1913) und nicht zuletzt der „neuen“ Landesbibliothek (12. Juli 1913).
Die häufigen Besuche Kaiser Wilhelms II., die auf den vielen tausend Zeitungsseiten immer wieder thematisiert werden, zeigen auch die Bedeutung, die Wiesbaden damals innehatte. Allenfalls Berlin-Charlottenburg war von der Sozialstruktur her mit der Kurstadt mit der höchsten Millionärsdichte Deutschlands (1902: 200) vergleichbar. Die kommunalpolitischen Aktivitäten vieler dieser Rentiers schlugen sich in einer überdurchschnittlich hohen Zahl von Stiftungen aller Art nieder – exemplarisch hierfür mag das Engagement des damals schon hochbetagten und -verdienten Fritz Kalle sein. Das Anwachsen der sozialen Probleme konnten indes auch solche Ausnahmeerscheinungen nicht verhindern. Und mit dem Kriegsausbruch 1914 begann dann auch der zunächst langsame Abstieg, der sich nach Kriegsende beschleunigte.
Literaturangaben
- Schulte vom Brühl, Walther, Sechs Jahrzehnte. Lebenserinnerungen, Stuttgart 1918, hier S. 224
- Weichel, Thomas, Die Pracht als politisches Programm. Die städtische Gesellschaft im Wiesbaden der Kaiserzeit. In: Ute Hasenöhrl (Hrsg.): Historismus und Moderne, Wiesbaden 2007, S. 38-47
Die meisten Abbildungen wurden entnommen aus:
- Guntram Müller-Schellenberg: „Die Wiesbadener Buchhändler-, Drucker- und Verlegerfamilie Schellenberg“, in: Schmidt-von Rhein, Andreas: 175 Jahre Wiesbadener Casino-Gesellschaft 1816-1991, Wiesbaden 1991, S. 101-111.
Unser Dank geht an den Autor für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.