22. NINO HARATISCHWILI
22. POETIKDOZENTUR: JUNGE AUTOR:INNEN – NINO HARATISCHWILI
Nino Haratischwili ist die Poetikdozentin der Hochschule RheinMain und der Landeshauptstadt Wiesbaden im Jahr 2021/2022.
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi, ist preisgekrönte Theaterautorin, -regisseurin und Autorin mehrerer Romane. Zuletzt erschien ihr Roman "Die Katze und der General". Ihr großes Familienepos "Das achte Leben (Für Brilka)", in zahlreiche Sprachen übersetzt, avancierte zum internationalen Bestseller. Für ihr Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft, dem Anna-Seghers-Literaturpreis, dem Bertolt-Brecht-Preis und dem Schiller-Gedächtnispreis.
Nino Haratischwili über sich selbst
Da ich es gewohnt bin, meist über andere zu schreiben und nie über mich selbst, stellt diese Aufgabe durchaus eine Herausforderung für mich dar. Wo fängt man da an? Die ersten Erinnerungen, die mir dabei in den Sinn kommen, wenn ich nach der Erklärung suche, wie das womöglich angefangen haben konnte – mit mir und meiner Obsession alles in Geschichten zu verpacken und verwandeln, für jede auch noch so kleine Banalität einen Kontext und eine Fortsetzung zu suchen, sind die Bilder, wie ich an der Hand meiner Großmutter, der größten Geschichtenerzählerin, die ich je gekannt habe und zugleich eine passionierte Wissenschaftlerin, durch die lauten, staubigen und kopfsteingepflasterten Straßen von Tbilissi laufe und dabei in fremde, beleuchtete Fenster schaue und mir vorstelle wer in diesen Wohnungen wohnt und wie ihr Leben aussehen mag, was sie glücklich macht und was sie bekümmert. (Und ich gebe es zu, diese merkwürdige, voyeuristische Unart bin ich bis heute nicht losgeworden...).
Der Zerfall meiner Welt, in die ich hineingeboren war und aufwuchs, der 1989 mit meiner Einschulung begann, die nie endenden Sperrstunden, Demonstrationen, Umwälzungen, Kriege, die durch die Mühlen der Geschichte zermalmte Gesellschaft um mich herum, könnte eine andere, mögliche Erklärung hierfür sein. Die verzweifelte, nicht selten in Gewalt mündende Suche nach der eigenen Identität meines kleinen wieder unabhängig gewordenen und vollkommen überforderten Landes, die meine Kindheit und meine Jugend prägte, könnte ebenfalls als eine mögliche Erklärung fungieren. Und die exzessive Flucht in die Bücher, die Flucht aus der Enge jener grauen und problembehafteten Tage; ein Weg mit der Welt in Verbindung zu bleiben, obwohl das Gefühl der Abgeschiedenheit und der Inselhaftigkeit jener Zeit omnipräsent blieb. Oder auch das Gefühl, das mich schon seit meiner frühesten Kindheit verfolgte, ein Leben reiche nie aus, um alles zu erproben, anzutasten und zu erleben, was das Leben bereithält oder schlichtweg meine Ungeduld und die schlechte Eigenschaft immer vorauseilen, immer auf Trab bleiben zu müssen, weil mir nichts solche Furcht einjagt, wie Monotonie und Langweile, die für mich damit einhergeht. Vielleicht war es aber auch die Kultur, die meine Geschichtenbesessenheit geformt hat; die langen Abende beim Kerzenlicht – weil wieder einmal der Strom ausgefallen war – bei dem sich die Freunde meiner Eltern um unseren Küchentisch zusammenfanden und sich gegenseitig das Leben erzählten und ihre Sorgen mit Hilfe von Gesang und Wein stummstellten.
Bis heute bleibt mein Zugang zu der Welt jener, über Geschichten. Als begreife ich nur Dinge, wenn ich sie in Worte gieße, wenn ich sie in einem Zusammenhang betrachte. Und auch die Freude ist gleichgeblieben, wenn ich in diesen Geschichten eintauchen, wenn ich hinter einer Figur verschwinde, mich vollkommen auflösen kann. Wo hat man schon diese Möglichkeit in einem Leben – Hunderte andere leben zu können?! Ich habe mich immer über Schriftsteller gewundert, die das Schreiben mit Qualen gleichsetzten. Selbstverständlich ist es harte Arbeit, erfordert eine unermüdliche Disziplin, nicht immer küsst einen irgendeine Muse oder nicht immer fällt einem etwas Überzeugendes ein, aber nichtdestotrotz empfinde ich die Tatsache: all meine Zweifel, all meine Freuden, meine Neigungen, meine Interessen zusammengebündelt zu einem Beruf gemacht zu haben – als ein unermessliches Privileg, worüber ich nie zu staunen aufgehört habe.
Termine
Donnerstag, 14. Oktober 2021
„Eine Autorin stellt sich vor“
Nino Haratischwili im Gespräch mit Prof. Dr. Michael May
Die Veranstaltung ist über den YouTube-Kanal der Hochschule RheinMain abrufbar.
Dienstag, 26. Oktober 2021
1. Vorlesung, 19:30 Uhr, Hochschule RheinMain, Kurt-Schumacher-Ring 18, Audimax
Mittwoch, 17. November 2021
1. Lesung, 19:30 Uhr, Kulturforum Wiesbaden, Friedrichstraße 16
Die Lesung wird live auf der Homepage des Literaturhauses gestreamt.
Terminänderung: Montag, 17. Januar 2022
2. Vorlesung, 19:30 Uhr
Die Vorlesung ist über den YouTube-Kanal der Hochschule RheinMain abrufbar.
Dienstag, 15. Februar 2022
2. Lesung, 19:30 Uhr, Kulturforum Wiesbaden, Friedrichstraße 16
Die Lesung wird live auf der Homepage des Literaturhauses gestreamt.