10. ULRIKE DRAESNER
10. Poetikdozentur: junge Autoren - Ulrike Draesner
Die freie Autorin Ulrike Draesner hält im Sommersemester 2009 im Rahmen der "Poetikdozentur: junge Autoren" zwei Vorlesungen an der Fachhochschule Wiesbaden und zwei Lesungen im Pressehaus. Ulrike Draesners Werk besticht durch thematische Vielfalt und durch die Sprache: da ist von "ungeheurer Sogkraft der sprachlichen Bilder" die Rede, von "sprachlicher Experimentierfreude" und "Virtuosität". Die Themen ihrer Romane, Erzählungen, Gedichtbände, Essays, Übersetzungen und intermedialen Projekten reichen von der Darstellung eines rätselhaften Verhältnisses zweier Schwestern zueinander ("Mitgift") bis hin zu der Überlegung, was und wie ein Lichtphoton aus der Sonne erzählen könnte ("Hot Dogs"). Dies alles macht Ulrike Draesner zu einer "Gelehrten" und einer der "interessantesten Schriftstellerinnen der Gegenwart", die "Tabus und Sehnsüchte des 21. Jahrhunderts" darstellt und dabei Entwicklungen in den Naturwissenschaften ebenso aufgreift und weiterdenkt wie kulturelle Aspekte.
Den Auftakt zur Poetikdozentur von Ulrike Draesner bildet eine "Lunchlesung" am 16. April, 12.15 Uhr, also eine Vorlesung zur Mittagszeit in der Bibliothek der Fachhochschule am Kurt-Schumacher-Ring 18 mit einem anschließenden gemeinsamen Lunch von Autorin und Publikum.
Biografie
Ulrike Draesner wurde 1962 in München geboren und lebt heute in Berlin. Von einem Jurastudium "sattelte" sie auf das Studium der Anglistik, Germanistik und Philosophie in München, Salamanca und Oxford um und promovierte 1992 über ein Thema zu Wolframs "Parzival". Ihre wissenschaftliche Laufbahn gab sie 1993 zu Gunsten ihrer schriftstellerischen Arbeit auf.
Im Vorgrund ihres Werks stehen Lyrik und erzählende Prosa; darüber hinaus gibt es Kombinationen von Draesners Texten mit Kunstformen wie Video, Graphik, Land Art und Musik. Draesner übersetzt aus dem Englischen und ist als scharfsinnige Essayistin bekannt. Mehr unter www.draesner.de
Zu ihren wichtigsten Preisen und Auszeichnungen gehören u.a. der "Hölderlin-Förderpreis 2001", der "Preis der Literaturhäuser 2002" und der "Droste-Preis der Stadt Meersburg 2006".
Ulrike Draesner über sich selbst:
Henri kam im Auto seines Vaters, zu spät wie immer, aber dagegen ließ sich nichts sagen, schließlich hatte er alles organisiert, die Lesung am Abend, die Fahrt und die Übernachtung bei Russen in den Outskirts von Leipzig. Es war schon Ende März, doch kalt, was auch an dem Loch im Seitenfenster lag. In Leipzig umrundeten wir ein paar Mal den hotelgesäumten Hauptbahnhof, eine halbe Stunde später standen wir im richtigen Haus. Lange Gänge, Alunummern. Die Russen schienen anderweitig beschäftigt, Henri behielt unsere Sachen im Wagen, raste zu einem Termin, ich fuhr Lesen ins Umspannwerk.
Auf der Party danach erzählte Henri, dass die Russen, in deren Wohnung inzwischen unsere Sachen lägen, für den Abend ausgegangen seien und dabei naturgemäß den Schlüssel mitgenommen hätten, während er, naturgemäß, den zweiten in der Tasche trage, den er behalte, auch wenn ich noch zu meiner Verabredung gehe, um ein Uhr in der Bar eines Hotels. Alles grinste, und draußen war es dunkel, die Nacht, alt wie ein Farn, rollte ihre noppenbesetzten kalten Blätter immer noch tiefer in Leipzigs alte Straßen hinein.
Als ich das Hotel erreichte, schloss die Bar, also setzte ich mich in die Lobby und schlug die Beine übereinander. Der Mann an der Rezeption erzählte, wo man hingehen könne, falls die 504 noch komme. Ich blätterte in einer Zeitschrift. Um halb zwei sprach ich ihm auf die Mailbox. Mein Herz wurde rau, es schabte in meiner Seite wie eine Feile. Taxis fuhren vor, Leute stiegen aus, manche kannte ich, ich versteckte mich. Der Mann, auf den ich wartete, hatte sich ganz in seine Mailbox verwandelt. Statt wütend zu verschwinden, schmolz ich auf meinem Stuhl weiter vor mich hin. Endlich fuhr ich zu dem Verlagsfest zurück, Henri war fort; ich folgte einer Gruppe, die von einer anderen Party wusste. Eine Frau schrie auf, als sie merkte, dass ihre Geldbörse fehlte, 1000 Meter später fand sie sie in ihrer Hosentasche wieder. Die Sterne funkelten, Leipzig war leer. Als wir über einen Platz zwischen mehreren Kreuzungen gingen, begannen die Vögel in den Büschen zu zwitschern. Dunkle kalte Nacht - und Vögel sangen laut. Nach einer Viertelstunde hörten sie wieder auf. Ich nahm ein Taxi, nannte die Adresse der Russen.
Das halbe Haus schrie ich wach, aus der Russenwohnung antwortete - Stille. Bis heute erröten Henri und seine Freunde, wenn man sie daran erinnert. Ich fuhr zurück in das Hotel, dessen Rezeption ich so gut kannte. Man gab mir Rabatt. An der Außenwand leuchteten Neonbuchstaben, nackt lag ich zwischen den Laken, aufgeregt, müde. Seepferdchen trieben im Teppichboden, die Seife schwamm auf ihrer Schale. Gesichter, Pläne, Möglichkeiten drehten sich um mich, wickelten mich ein.
In dieser Nacht lernte ich die Worte lieben.