21. SAŠA STANIŠIĆ

21. POETIKDOZENTUR: JUNGE AUTOREN – SAŠA STANIŠIĆ

Der Schrifteller Saša Stanišić ist der Poetikdozent der Hochschule RheinMain und der Landeshauptstadt Wiesbaden im Jahr 2020.

Wir freuen uns, Ihnen als Abschluss der diesjährigen Poetikdozentur zwei weitere Veranstaltungen mit Saša Stanišić ankündigen zu können.


Mittwoch, 18. November 2020, 19:30 Uhr

Die Lesung im Kulturforum Wiesbaden muss leider coronabedingt ausfallen. Die Aufzeichnung dieser Lesung finden Sie dann online im YouTube-Kanal der Landeshauptstadt Wiesbaden.


Mittwoch, 25. November 2020, 19:30 Uhr

2. (Online-)Vorlesung

Die Veranstaltung wurde vorab aufgezeichnet und ist im YouTube-Kanal der Hochschule RheinMain abrufbar.

„Meine Literatur ist Rollenspiel.

Mal mit der eigenen Identität: Wer will man sein, in diesem Text, wie spricht, wie denkt das Ich und bin das noch ich? Mal mit der Welt und deren Personal: Wie verwandelt man Menschen in Figuren, sodass sie aber Menschen bleiben, wie eignet man sich die Welt in Sprache an?

Meine Literatur ist Sprachspiel. Ein Spiel mit der Muttersprache, der Figurenrede, der beabsichtigten und gleichzeitig niemals planbaren Wirkung von jedem Wort.

Meine Literatur ist das Spielgefühl. Eine Täuschungsabsicht auch, unbedingt die Leser*innen nicht täuschen zu wollen, und das doch eigentlich ständig tun. Und dann mit der stets akuten Angst leben, man würde durchschaut in dem, was man da tut, wie man sich als Sprache verkleidet und zu diesem Karneval der Geschichten geht.

Meine Literatur ist Rollenspiel mit den Grenzen des Wahrscheinlichen. Die verlaufen zwischen Brandenburg, Bosnien, Banalem, Bedeutendem (für wen?), jetzt Hessen und Texas.

Die Leser*innen verlassen aber auch Ländergrenzen, überhaupt unsere Welt, schon sind wir bei den Drachen und Feen und ein Ork schwingt seine Streitaxt. Meine Literatur ist phantastisch.

Meine Literatur ist das Spiel mit der Recherche. Was sind da die Regeln aber? Ich habe vier Bücher recherchierend geschrieben und kenne sie immer noch nicht? Vielleicht finde ich es in diesem Vortrag heraus?“


Biografie (Text von Saša Stanišić)

Stanišić ist 1978 in Višegrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland (Kurpfalz, Sachsen, Prenzlauer Berg, etc.). Er ist Vater eines Vierjährigen und Schriftsteller, wobei der Vierjährige es lieber hätte, wenn sein Vater Kranführer wäre, aber gut. Als Kranführer ist Stanišić noch nicht viel gelungen, als Schriftsteller hat er immerhin schon vier Bücher veröffentlichen dürfen – zwei Romane (Wie der Soldat das Grammofon repariert, 2006, und Vor dem Fest, 2014), einen Band mit hanebüchenen Erzählungen (Fallensteller, 2016), sowie 2019 etwas, von dem kein Mensch so recht weiß, was es ist, unter dem Titel HERKUNFT.

Preise hat Stanišić auch erhalten, aber mal ehrlich, welcher Schriftsteller in Deutschland hat das nicht? Zuletzt waren es bei ihm der Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen, der Rheingauer Literatur Preis (111 Flaschen Riesling!) sowie der Preis der Leipziger Buchmesse 2014. Ganz aktuell wurde ihm der Deutsche Buchpreis verliehen.

Stanišić lebt und "arbeitet" in Hamburg.

Saša Stanišić über sich selbst

Ich wurde am 7. März 1978 in Višegrad an der Drina geboren. In den Tagen vor meiner Geburt hatte es ununterbrochen geregnet. Der März in Višegrad ist der verhassteste Monat, weinerlich und gefährlich. Im Gebirge schmilzt der Schnee, die Flüsse wachsen den Ufern über den Kopf. Auch meine Drina ist nervös. Die halbe Stadt steht unter Wasser.
Im März 1978 war es nicht anders. Als bei Mutter die Wehen anfingen, brüllte ein heftiger Sturm über der Stadt. Der Wind bog die Fenster vom Kreißsaal und brachte Gefühle durcheinander, und mitten in einer Wehe schlug auch noch der Blitz ein, dass alle dachten, aha, soso, jetzt also kommt der Teufel in die Welt. So unrecht war mir das nicht, ist doch ganz gut, wenn Leute ein bisschen Angst haben vor dir, bevor es überhaupt losgeht.

Ich hatte als Kind zwei Hamster und zwei Wellensittiche und meine Tante Lula hat sich zwei Mal am gleichen Tag aus Versehen auf einen der Hamster gesetzt, und der Hamster hat es überlebt, und meine Tante Lula auch, und sie hat beim zweiten Mal den Hamster hochgenommen und ihn vor lauter Freude, dass er noch lebt, geküsst, und gesagt, siehst du, mein lieber Indiana Jones, ich setz mich auf dich zwei Mal und du machst nicht mal ein Geräusch, so setzen sich die Politiker auf uns das Volk, und auch wir leben weiter und halten unseren Mund.

Diese Narbe - habe ich mir geholt, als ich über einen Zaun klettern wollte, der zu hoch war für mich; ich wollte meine Mutter sehen, die auf der anderen Seite etwas zu tun hatte, und der Zaun war nass, so dass ich abrutschte, und der Zaun hatte Spitzen, scharfe Teile, und man sagt, noch ein Zentimeter höher, und ich hätte meine Stimme für immer verloren.

Als ich etwa acht war hatte ich ständig Halsschmerzen, Mandelentzündung, und meine Tante Lula sagte eines Morgens, das reicht ihr jetzt, sie nahm mich an die Hand und brachte mich zu einem Hochhaus am Rande der Stadt, wir betraten die Wohnung von einer stinkenden, alten Frau, die vielleicht ein Mann war, ich weiß es nicht, jedenfalls trug sie Lappen, statt Kleidung, ihr Haar und ihre Sätze waren wirr und die Wohnung roch nach Katzen, Zahnpasta und Wurst. Ich musste zwei Stunden warten, bis ich an der Reihe war und dann musste ich mich auf einen Stuhl setzen, und der Stuhl war eingeölt von oben nach unten, so dass ich mich kaum darauf halten konnte, und die Hexe oder der Hexer sagte ein paar Worte auf Latein oder Ungarisch und dabei zog sie mir auf einmal so fest an den Haaren, dass es irgendwo in meinem Kopf so richtig hart knallte. Ich weinte und schrie wie meine Mutter damals bei meiner Geburt, aber - niemals wieder hatte ich danach Halsschmerzen, höchstens einen Schnupfen, und meine ölige Kleidung war nicht mehr zu retten.

Meine Nena Mejrema, die Mutter meiner Mutter, las mir während meiner Kindheit aus Nierenbohnen die Zukunft. Sie warf die Bohnen, und die Bohnen warfen Bilder meines noch ungelebten Lebens auf den Teppich. Einmal prophezeite sie mir, eine ältere Frau werde sich in mich verlieben, oder ich würde alle Zähne verlieren, die Nierenbohnen zeigten da eine gewisse Unschärfe. Ein anderes Mal riet sie, dass ich mich an Worte halten solle, ein Leben lang, dann werde zwar trotzdem nicht alles gutgehen, aber einiges lasse sich besser ertragen. Oder an Edelmetalle. Da hätten sich die Bohnen noch nicht festgelegt.

Bereits stattgefundene Termine

Ein Autor stellt sich vor
Saša Stanišić im Gespräch mit Prof. Dr. Michael May
Donnerstag, 13. Februar 2020, 12:15 Uhr, Hochschule RheinMain

1. Vorlesung (Audiomitschnitt)
Mittwoch, 19. Februar 2020, 19:30 Uhr, Hochschule RheinMain

"Wie entsteht ein Roman, dessen Erzählung nicht in der Gegenwart stattfindet? Wie schreibt man einem historischen Stoff doch Gegenwart ein? Wie ist der Stellenwert von Recherche für einen fiktionalen Text – wie lassen sich Fakten in Geschichten transportieren? Wieso schaffen es vierzig erwachsene Männer Materialien für den Bau einer ganzen Mühle über den Ozean zu verschiffen und haben dann aber vor Ort niemanden, der sich mit dem Bau von Mühlen auskennt? Wie ist es eigentlich, der jüngere, unbekannte Bruder von Georg Büchner zu sein? Wie bringt man einem Komantschen deutsche Redewendungen bei? Wie schreibt man eigentlich einen modernen Western? Und was hat Bettina von Arnim mit all dem zu tun? Ich weiß es auch alles nicht, vielleicht finde ich es ja in Wiesbaden aber heraus."