Ein Auslandssemester am Lago Maggiore: Forschen an der Sonne im IRSOL

Bild 1: Mathis Engelhard an einem optischen Aufbau unterhalb des Teleskops, in dem das Bild der Sonne eingefangen, gefiltert und in elektronisch speicherbare und auswertungsbereite Signale umgewandelt wird.

Bild 2: Das Sonnenteleskop von IRSOL besitzt eine Öffnung (Durchmesser) von 45cm bei einer Brennweite von 25m. Die Apparaturen, die das Sonnenbild aufzeichnen und lokal wellenlängen- und polarisationsabhängig analysieren, sind im Haus hinter dem Teleskop und im Keller darunter untergebracht.

Bild 3: „Familie IRSOL“: Hier kocht der Chef! Dr. Michele Bianda, wissenschaftlich-technischer Leiter des IRSOL (Dritter von rechts), sorgt sich persönlich um das leibliche Wohl der Mannschaft aus Wissenschaftlern, Technikern, Postdocs und Studierenden.

Das Institut für Sonnenforschung  in Locarno bietet Studierenden unterschiedlicher Studiengänge hochinteressante und aktuelle Themen für Abschlussarbeiten, so auch Mathis Engelhard, Studierender aus dem Studiengang „Angewandte Physik“ am Fachbereich.

Mathis Engelhard strahlt mit der Frühlingssonne um die Wette: Seine Masterthesis kommt gut voran und wenn es so weiter geht, kann er im Sommer dieses Jahres das Opus am Fachbereich Ingenieurwissenschaften der Hochschule RheinMain fristgerecht einreichen. Er hat bereits seine Bachelorarbeit im Rüsselsheimer Studiengang „Physikalische Technik“ hier am „Istituto Ricerche Solari Locarno“ (Institut für Sonnenforschung Locarno - IRSOL) angefertigt.

Hoch über dem Lago Maggiore genießt man nicht nur eine fabelhafte Aussicht auf den See und die jetzt im März noch schneebedeckten Gipfel der Südschweiz, sondern man hat hier am südexponierten Hang auch besten Blick auf unser Zentralgestirn: Schließlich ist man hier in Locarno stolz auf durchschnittlich 6 Sonnenstunden pro Tag im Jahresmittel!

 

Die Sternwarte in Locarno hat eine lange und wechselhafte Geschichte

Das milde, quasi mediterrane Klima lockte nicht nur schon Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Touristen an den Lago Maggiore.

Auch die Göttinger Universitätssternwarte gründete hier bereits 1960 eine Außenstelle mit dem Ziel der Sonnenbeobachtung. Trotz erfolgreicher Forschungsarbeit in Locarno entschloss man sich in Göttingen jedoch, mit dem Teleskop in noch sonnigere Gestade umzuziehen: 1985 wanderte die Göttinger Sternwartenfiliale nach Teneriffa aus. Heute ist sie in dem dortigen Astrophysik-Zentrum „Observatorio del Teide“ aufgegangen.

Der Teleskopstandort Locarno stand in jenen Jahren auf der Kippe. Aber die Begeisterung für die Forschung und der Idealismus einiger Wissenschaftler fanden einen Weg: Dank großzügiger Unterstützung einiger Förderer konnte eine Stiftung gegründet werden, die bis heute das Überleben der Einrichtung garantiert. Wobei der Stiftung mittlerweile noch der Kanton Tessin und die Stadt Locarno beigetreten sind.

Unter den Unterstützern befand sich damals auch ein junger Physiker, der in den frühen Achtzigern die wichtigsten Messungen für seine Doktorarbeit am Sonnenteleskop in Locarno durchgeführt hatte: Gerd Küveler, von 1989 bis 2013 Professor an der Fachhochschule Wiesbaden, heute Hochschule RheinMain, steuerte seine Kenntnisse in Technischer Informatik bei. Ihm sind die Kuppelsteuerung auf Teneriffa und sowohl die erste wie auch die aktuelle Computerisierung der Teleskopnachführung am IRSOL zu verdanken.

Und natürlich fand er hier in Locarno nicht nur ein Betätigungsfeld für sich, sondern auch für Studierende der Umwelttechnik, der Elektrotechnik, des Maschinenbaus und insbesondere der Physikalischen Technik, also für alle ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge des Campus Rüsselsheim.

Denn Sonnenforschung besteht nicht nur aus der „reinen“ – und oft sehr abstrakt-mathematischen - Astrophysik, sondern hier sind Technische Optik, Steuer- und Regelungstechnik, Elektronik sowie Programmierung unverzichtbare Disziplinen!

Angehende Ingenieure finden hier also immer ein reiches Betätigungsfeld, zumal die Weiterentwicklung der Beobachtungstechnik und der zugehörigen Instrumente ein Hauptanliegen der Forscher in Locarno ist.

Seither sind über 200 Diplom-, Bachelor- und Masterarbeiten hier entstanden, die zu einer langen Liste von wissenschaftlichen Veröffentlichungen und zu einem sehr guten Ruf der transalpinen deutschen Fachhochschule geführt haben. Auch trugen sie dazu bei, dass das IRSOL eine international hervorragende Reputation genießt, was seine teilweise einzigartigen Messmöglichkeiten und weltweit beachteten Forschungsergebnisse angeht. Einige Ex-Diplomanden haben ihre Verbindung zum IRSOL nie ganz abreißen lassen und sind auch bei gelegentlichen technischen Verbesserungen ihrer „Werke“ behilflich.

 

Die Sonne – ein „vergessenes“ Himmelsobjekt?

Wir alle staunen bei der Betrachtung der fantastischen Bilder aus den entlegensten Winkeln des Universums, die weltraumgestützte Teleskope wie HUBBLE uns liefern.

Wir verfolgen die Diskussionen über die spannenden kosmologischen Rätsel rund um Dunkle Materie und Dunkle Energie.

Wir lesen in der Tagespresse fast täglich die Meldungen über neu entdeckte Exoplaneten.

Eigentlich hat man als „Nicht-Astrophysiker“ das Gefühl, die Sonne sei ein gut erforschter, mittlerweile aber kaum mehr interessanter Himmelskörper. Schwarze Löcher scheinen uns mehr zu faszinieren als „unser“ Muttergestirn, obwohl doch ohne die Sonne kein Leben auf der Erde möglich wäre und sie die wichtigste - und einzige unerschöpfliche - Energiequelle überhaupt darstellt.

Wer mit den beiden promovierten Physikern Gerd Küveler oder Michele Bianda, dem wissenschaftlich-technischen Leiter von IRSOL redet, wird eines Besseren belehrt:

Sonne und Erde bilden ein komplexes System. Was „auf“ der Sonne, genauer gesagt in der Sonnenatmosphäre, passiert, beeinflusst unseren „Blauen Planeten“ mehr, als die meisten vermuten würden. Die Sonne  sendet nicht nur sichtbares Licht und elektromagnetische Strahlung anderer Wellenlängenbereiche zu uns, sie schickt auch gewaltige Mengen an Partikeln in den Weltraum hinaus, welche, wenn sie in die Erdatmosphäre eindringen, z.B. Kondensationskeime für Wolken bilden.

Dazu kommt, dass dieser sog. Sonnenwind das Magnetfeld der Erde beeinflusst, welches seinerseits die Flugbahnen der geladenen Partikel verformt.

Richtig spannend wird diese Thematik, wenn man bedenkt, dass die Sonne keineswegs nur ein gleichmäßig vor sich hin strahlender thermonukleare Reaktor ist, sondern dass sie eine Vielzahl von Unregelmäßigkeiten aufweist.

Periodische und unperiodische Veränderungen, vorhersagbare und unvorhersagbare Geschehnisse in der Sonnenatmosphäre sind an der Tagesordnung: Die Atmosphäre selbst erscheint bei genauer Betrachtung „körnig“, etwa wie die Oberfläche kochenden Wassers ja auch Strukturen aufweist.  Riesige Explosionen schleudern Plasmabögen weit über die Sonnenatmosphäre hinaus, die sog. Protuberanzen. Dazu kommen Oberflächenschwingungen und die bekannten Sonnenflecken, deren Auftreten und Anzahl einem langjährigen Zyklus unterworfen sind.

Alle diese Erscheinungen sind mit dem Entstehen und Vergehen von lokalen Magnetfeldern verbunden und „formen“ sozusagen den Sonnenwind. Ein erhöhtes Aufkommen an Sonnenwind führt in der Erdatmosphäre zum Entstehen von Polarlichtern und kann z.B. den weltweiten Funkverkehr empfindlich stören.

 

Wissenschaftliches Arbeiten am IRSOL zum Klimawandel

Die Grundlage der Beobachtungen am IRSOL ist, dass das Licht der Sonne, welches uns auf der Erde erreicht, vielerlei Informationen über die Geschehnisse in der Sonnenatmosphäre mit sich trägt: Diese Botschaft gilt es zu entschlüsseln!

Dazu wird das in Locarno aufgenommene Bild der Sonne durch extrem schmalbandige Filter geschickt, wobei die herausgefilterten Wellenlängen zumeist typisch für ein spezielles in der Sonnenatmosphäre vorkommendes chemisches Element sind.

Zudem untersucht man die Polarisation  (Schwingungsrichtung) des Lichtes, welche Rückschlüsse auf Richtung und Stärke des Magnetfeldes an jenem Ort zulässt, von dem die Strahlung ihren Ausgang nahm.

Diese Polarisationsmessungen sind die besondere Stärke des Observatoriums, weil das nach dem „Grégory-Coudé-System“ konstruierte Teleskop eine nahezu konstante instrumentelle Polarisation aufweist, die man sauber von der solaren trennen kann.

Dabei hilft insbesondere ein weltweit einzigartiges  Instrument, das  „ZIMPOL“ (Zurich IMaging POLarimeter. Es wurde am Institut für Astronomie der Eidgenössischen Technischen Hochschule  (ETH) Zürich unter der Leitung von Prof. Jan Olof Stenflo entwickelt und am IRSOL installiert.

 

Wie beeinflusst die Sonnenaktivität uns Menschen und unsere Technik?

Die gewonnenen Daten aus Locarno können mit Beobachtungen anderer Sonnenteleskope sowie mit denen von meteorologischen Beobachtungsstationen zusammengeführt werden. Unter anderem soll die Frage geklärt werden, wie die langfristigen Veränderungen der Sonneneinstrahlung mit den Wetterverhältnissen zusammenhängen, insbesondere, welchen Beitrag die Fluktuationen des Sonnenwinds am Klimawandel haben. Dass dazu der Mensch durch erhöhte CO2-Emissionen während der letzten 100 bis 150 Jahre einen deutlichen Beitrag geleistet hat, ist mittlerweile kaum mehr umstritten.

Allerdings ist bekannt, dass es auch in weiter zurückliegenden Jahrhunderten starke Klimaschwankungen, sog. „Mini-Eiszeiten“ und „Mini-Warmzeiten“ gegeben hat, die eben nicht zivilisatorischen Ursprungs waren. Es wäre also wichtig zu wissen, wie man beide Einflüsse sauber gegeneinander abgrenzen kann.

Eine weitere ganz aktuelle Fragestellung ist beispielsweise die, inwieweit die Sonnenaktivitäten die Genauigkeit des GPS beeinflussen.

Und natürlich versucht man am IRSOL aufgrund der Messungen die Vorgänge in der Sonnenatmosphäre nicht nur besser zu verstehen, sondern auch zu modellieren und zu simulieren, um damit zukünftig auch Vorhersagen treffen zu können. Hierbei arbeitet man u.a. mit dem Nationalen Schweizer Supercomputer-Zentrum in Lugano zusammen.

 

Hier schließt sich der Kreis aus Forschung und Anwendung:

Ebenso helfen die Forschungsprojekte am IRSOL auch den Menschen ganz direkt weiter:

ein Modul der Steuerprogramme des Teleskops findet derzeit Verwendung bei den neuen technischen Einrichtungen zur Tumorbestrahlung am Heidelberger Krebsforschungszentrum.

An deren Etablierung ist die „Gesellschaft für Schwerionenforschung“ in Darmstadt maßgeblich beteiligt, in der etliche unserer Absolventen dort als Ingenieure und Wissenschaftler tätig sind.

 

Spitzenforschung in familiärer Atmosphäre

Mathis Engelhard fühlt sich nicht nur wohl hinsichtlich des Fortschritts seiner Masterthesis, auch das „Drumherum“ stimmt: Er kann im Institutsgebäude wohnen, hat dort ein kleines Zimmer mit Bett und Schreibtisch. Und für die Verpflegung sorgt der Institutsleiter:

Statt hinunter in die Stadt zu fahren und dort für teure Schweizer Franken essen zu gehen, sitzen Wissenschaftler, Techniker, Ingenieure und Studierende zur Mittagszeit gemeinsam um den großen Tisch im Aufenthaltsraum des IRSOL. Von der Qualität der Verköstigung konnte sich der Autor dieses Beitrags kürzlich selbst überzeugen, als er seinen „Antrittsbesuch“ als weitere Kontaktperson der Hochschule zum IRSOL, neben Gerd Küveler, absolvierte.

 

Ein Fazit

Es muss nicht immer Japan sein, wenn man ein Auslandssemester anstrebt. Auch in der Südschweiz gilt es, den Anforderungen einer anderen akademischen Umwelt, einer anderen Sprache und eines anderen kulturellen Umfelds gerecht zu werden.

Die Schweiz mag dabei nicht so exotisch sein wie Japan. Der Kontakt innerhalb der Projektgruppe dagegen ist nicht weniger intensiv und motivierend!

Gerd Küveler, der Initiator der Kooperation, stellt rückblickend fest: „Für mich war das IRSOL Basis meiner Forschungstätigkeit an der Hochschule RheinMain. So konnte ich meine astronomischen Kenntnisse mit meinen eher technischen Aufgaben an der Hochschule verbinden.“

Die Kooperation mit der Hochschule RheinMain war laut Michele Bianda eine  wichtige Komponente in der Geschichte des Institutes. „Die Entwicklung mancher Instrumente, mit denen heute wichtige Messungen gemacht werden, hat oft ungewöhnliche Lösungen verlangt und deshalb eine  außerordentliche Flexibilität der Studierenden erfordert. Die Studierenden aus Rüsselsheim bringen diese Flexibilität mit und können hier in Locarno ihre exzellente fachliche Ausbildung umsetzen und dazu noch originäre Ideen einbringen!“ lobt Bianda die Ingenieurausbildung in Rüsselsheim.

Auch die menschliche Komponente hat eine wichtige Rolle gespielt: Aus den Tessiner Partnern, dem Direktor Dr. Michele Bianda, dem Rüsselsheimer Prof. Dr. Gerd Küveler  und anderen, sind längst Freunde geworden. Der Studienbereich Physik plant deshalb, die Kooperation mit dem IRSOL auf neuer und noch breiterer vertraglicher Basis fortzusetzen.