„Design kann und muss die Bauindustrie transformieren“

Prof. Dr. Melanie Fessel © Melanie Fessel

Prof. Dr. Melanie Fessel ist im Fachbereich Design Informatik Medien der Hochschule RheinMain (HSRM) tätig, wo sie im Frühjahr die Professur „Nachhaltigkeit, Ästhetik und Inklusion“ übernommen hat. Im Interview spricht sie darüber, wie diese drei Dimensionen zusammenspielen und warum Nachhaltigkeit als dynamischer Begriff zu verstehen ist.

„Nachhaltigkeit, Ästhetik und Inklusion“ – drei Begriffe, die nicht jede:r intuitiv miteinander verbindet. Worum geht es in Ihrer Professur und wie spielen diese drei Elemente zusammen?

In meiner Professur geht es darum, drei zentrale gesellschaftliche Herausforderungen in der Innenarchitektur und Raumgestaltung miteinander zu verbinden: Nachhaltigkeit, Ästhetik und Inklusion. Diese drei Konzepte sind eng miteinander verknüpft, auch wenn sie auf den ersten Blick unterschiedlich erscheinen. Nachhaltigkeit ist nicht nur ein ökologisches Konzept, sondern es umfasst auch soziale und ökonomische Dimensionen. Es geht darum, Umgebungen zu schaffen, die nicht nur ressourcenschonend sind, sondern auch langfristig Bestand haben. Ästhetik ist mehr als nur Schönheit; es geht um die Gestaltung von Räumen, die sinnlich ansprechend sind und emotionale Resonanz erzeugen. Inklusion stellt sicher, dass diese Räume für alle zugänglich und gerecht sind, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten oder sozialen Hintergründen.

Durch die Verbindung dieser drei Aspekte ermutige ich Studierende, ganzheitlich zu denken und ihre Entwürfe so zu gestalten, dass sie sowohl ökologisch nachhaltig als auch ästhetisch ansprechend und für alle zugänglich sind. Diese Synergie ist von entscheidender Bedeutung, um in einer Welt, die zunehmend von sozialer Ungleichheit und ökologischen Herausforderungen geprägt ist, sinnvolle Veränderungen zu bewirken.

Wie trägt Ihr Fachgebiet zu einer nachhaltigen Entwicklung bei?

Die Bauindustrie ist eine der größten Umweltbelastungen weltweit und spielt eine zentrale Rolle in der Klimakrise. Sie ist für rund 38 Prozent des globalen CO₂-Ausstoßes verantwortlich, verbraucht 36 Prozent der weltweiten Energie  und erzeugt 30 Prozent des gesamten Abfalls. Diese Zahlen verdeutlichen, wie dringend die Baubranche nachhaltige Lösungen benötigt. Genau hier sehe ich das enorme Potenzial meines Fachgebiets.

Design kann und muss genutzt werden, um eine transformative Veränderung in der Bauindustrie herbeizuführen. Es geht nicht nur darum, weniger schädlich zu bauen, sondern um die Entwicklung neuer, regenerativer Ansätze. In meiner Lehre und Forschung geht es darum, nachhaltige und kreislaufwirtschaftliche Entwürfe zu fördern, die den Ressourcenverbrauch minimieren und geschlossene Materialkreisläufe schaffen. Nachhaltiges Design bedeutet, Räume zu gestalten, die nicht nur umweltfreundlich sind, sondern auch langfristig positive Auswirkungen auf die Gesellschaft und das Ökosystem haben. Besonders wichtig ist mir dabei, Nachhaltigkeit als dynamisches Konzept zu verstehen, das ständig hinterfragt und weiterentwickelt werden muss. Dies fördert ein Denken, das über bestehende Ansätze hinausgeht und neue, zukunftsfähige Lösungen ermöglicht.

Ganz allgemein gesprochen – inwiefern wirken sich Nachhaltigkeitsaspekte auf Ihre Tätigkeiten in Forschung und Lehre an der HSRM aus?

Nachhaltigkeit ist in meiner Arbeit in Forschung und Lehre zentral verankert. In der Lehre ist es mein Ziel, den Studierenden die Bedeutung von ganzheitlichem Denken zu vermitteln. Nachhaltigkeit muss als integraler Bestandteil des Designs verstanden werden, von der Materialwahl bis hin zu den sozialen Auswirkungen eines Projekts. Ich ermutige die Studierenden, die langfristigen ökologischen und sozialen Folgen ihrer Entwürfe zu berücksichtigen und Lösungen zu entwickeln, die sowohl nachhaltig als auch inklusiv sind.

In der Forschung geht es darum, innovative Ansätze zu entwickeln, die auf den Prinzipien der Regeneration und der Kreislaufwirtschaft basieren. Diese Konzepte zielen darauf ab, geschlossene Materialkreisläufe zu schaffen und Designprozesse zu entwickeln, die nicht nur umweltschonend sind, sondern aktiv zur Wiederherstellung von Ökosystemen beitragen. Gleichzeitig ist es mir wichtig, den Begriff der Nachhaltigkeit kritisch zu hinterfragen und ständig weiterzuentwickeln, um neue, zukunftsweisende Lösungen zu finden.

Was möchten Sie Ihren Studierenden in Bezug auf Nachhaltigkeit in ihr zukünftiges Berufsleben mitgeben?

Ich möchte meinen Studierenden vermitteln, dass sie als Designer eine Verantwortung für die Gesellschaft und die Umwelt tragen. Nachhaltigkeit muss in jedem Entwurfsprozess fest verankert sein und nicht als nachträglicher Gedanke betrachtet werden. Dabei geht es nicht nur darum, negative Umweltauswirkungen zu minimieren, sondern aktiv positive Veränderungen zu bewirken. Ich möchte sie dazu ermutigen, über den Status quo hinauszudenken und innovative, zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln, die auf den Prinzipien der Regeneration und der Kreislaufwirtschaft basieren.

Im Rahmen internationaler Projekte haben Sie an der Entwicklung zukunftsfähiger Städte mitgewirkt, beispielsweise bei der 9. Bi-City Biennale für Urbanismus/Architektur (UABB) in Shenzhen, China oder der Vienna Biennale for Change 2021. Welche zentralen Erkenntnisse haben Sie aus diesen Tätigkeiten mitgenommen, die nun in Ihre Arbeit an der HSRM einfließen?

Die Vienna Biennale for Change 2021 unter dem Leitthema „PLANET LOVE: Climate Care in the Digital Age“ war nicht nur eine multidisziplinäre Ausstellung mit Beiträgen aus Kunst, Design, Architektur, Wissenschaft und sozialen Initiativen, die sich intensiv mit den globalen Herausforderungen des Klimawandels auseinandersetzte, sondern vor allem ein Aufruf zu aktivem Engagement. Ich hatte das Privileg, die IMAGINARIES-Sektion zu kuratieren, die sich auf die Frage konzentrierte, wie Design zu einer zukunftsfähigen, regenerativen Welt beitragen kann. Diese Ausstellung wird weiterhin international gezeigt und befindet sich derzeit in der Balkan-Region.

Die IMAGINARIES-Sektion war eine kollektive Suche nach neuen Ideen und Lösungsansätzen, wie wir als Gesellschaft nachhaltigere und gerechtere Lebensformen entwickeln können. Sie stellte die Frage: „Was wäre, wenn unsere bisherigen Vorstellungen von unbegrenztem Wachstum und technologischem Fortschritt nicht mehr ausreichen?" Der Fokus lag dabei auf der aktiven Mitgestaltung einer „more-than-human“-Zukunft, in der Menschen, Tiere, Pflanzen und Ökosysteme gleichberechtigt behandelt werden. Zudem wurde die globale Ungerechtigkeit im Zusammenhang mit dem Klimawandel thematisiert: Die Länder des globalen Südens tragen die schwerwiegendsten Folgen, obwohl sie am wenigsten zur Erderwärmung beitragen. Diese Erfahrungen prägen meine Lehre an der HSRM maßgeblich. Es geht darum, die Studierenden zu ermutigen, kritisch über Nachhaltigkeit nachzudenken und neue Lösungen zu entwickeln, die die Prinzipien von Resilienz, Regeneration und sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund stellen.

Wieso liegt Ihnen das Thema Nachhaltigkeit am Herzen und was würden Sie sich zukünftig konkret für die nachhaltige Entwicklung unserer Hochschule wünschen?

Nachhaltigkeit ist für mich der Schlüssel zu einer gerechteren und lebenswerteren Zukunft. Es geht nicht nur um den Erhalt der Umwelt, sondern um die Förderung von sozialer Gerechtigkeit und einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Für die HSRM wünsche ich mir, dass Nachhaltigkeit nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Campusgestaltung und den Verwaltungsprozessen verankert wird.

Darüber hinaus sollten wir den Begriff der Nachhaltigkeit auf akademischer Ebene kritisch hinterfragen und weiterentwickeln. Es reicht nicht aus, die bestehenden Ansätze fortzusetzen. Wir müssen über die traditionellen Definitionen von Nachhaltigkeit hinausgehen und innovative Konzepte wie Regeneration und Resilienz in unsere Arbeit integrieren. Dies erfordert auch eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen und die Vernetzung der Ziele, um Lösungen zu entwickeln, die mehrere dieser Nachhaltigkeitsziele gleichzeitig adressieren.