Soziale Arbeit als Nachhaltigkeitsprofession
Viele Angehörige der Hochschule RheinMain (HSRM) widmen sich hier an der Hochschule, aber auch darüber hinaus verschiedenen Aspekten der Nachhaltigkeit. Prof. Dr. Andreas Thiesen lehrt und forscht im Fachbereich Sozialwesen zu seinem Fachgebiet Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit. Im Interview berichtet er, weshalb Soziale Arbeit eine „Nachhaltigkeitsprofession“ ist und wie Transformationsforschung zur Entwicklung nachhaltiger Städte beiträgt.
Zu den Kernthemen, mit denen Sie sich in Forschung und Lehre an der Hochschule RheinMain (HSRM) beschäftigen, gehören Stadt- und Transformationsforschung und der Umgang mit Diversität – Themen, die auch zentrale Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen berühren. Inwiefern zahlen Ihre Forschungsfelder auf die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft ein?
Der Begriff „Transformation“ beschreibt nicht weniger als eine historisch notwendig gewordene Neubewertung der Voraussetzungen von Wohlstands- und damit auch Armutsproduktion. Daher ist es wichtig, Forschungsaktivitäten beispielsweise unter dem Eindruck von Klimawandel, Flucht und sozialer Fragmentierung zu bewerten – oder positiv formuliert: zu untersuchen, unter welchen Bedingungen soziale Durchlässigkeit, Partizipation und nachhaltige Entwicklung hergestellt werden können. Städte sind in diesem Zusammenhang zugleich Verursacher transformativer Herausforderungen und Innovationsmaschinen. In unserer Arbeitsgruppe „Transformative Sozialraumentwicklung“ verknüpfen wir aus diesem Grund Stadtthemen wie sozialen Zusammenhalt, Mobilität, Wohnen oder öffentliche Raumgestaltung, da wir nur auf diese Weise der Mehrdimensionalität nachhaltiger Stadtentwicklung gerecht werden können.
Ganz allgemein gesprochen – inwiefern wirken sich Nachhaltigkeitsaspekte auf Ihre Tätigkeiten in Forschung und Lehre an der HSRM aus? Welche Projekte gab es bereits, was ist für die Zukunft geplant?
Nachhaltigkeitsaspekte beeinflussen die Themensetzung der Stadtentwicklung wie nie zuvor. Bedeutend ist, dass die Neue Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt neben „der grünen Stadt“ auch „die produktive“ und „die gerechte Stadt“ nennt. Die Soziale Arbeit kann hier unschätzbare Kompetenzen einbringen, indem sie perspektivisch zeigt, dass die soziale Durchlässigkeit der Stadt über das Gelingen aller anderen Transformationsfacetten entscheiden wird. Auf der Methodenebene folgt daraus die Erprobung neuer Partizipationsformen. Das Thema Nachhaltigkeit ist, was den Diskurs betrifft, allerdings höchst voraussetzungsvoll. Ich unterstelle, dass es angesichts des Klimawandels kein „Bildungsproblem“ gibt, die Dringlichkeit des Themas ist milieuübergreifend bekannt. Vielmehr wird Nachhaltigkeit in den Städten häufig auf der Lebensstilebene verhandelt: über den Konsum und eine bestimmte Art, im öffentlichen Raum zu „performen“. Diese Praxis schließt weite Teile der Gesellschaft aus, die unter anderen Bedingungen sicher offener für Nachhaltigkeitsthemen wären.
Im Forschungsprojekt TRANSCITY haben wir deshalb die Themen Klimaschutz und quartiersübergreifende Kooperation stärker diskutiert, um neben anderen Fragestellungen den „Lebensstilgap“ zu problematisieren. In Zukunft wollen wir gemeinsam mit überregionalen Partnern Formate entwickeln, die in der Lage sind, die Effekte kommunalen Klimaschutzes zu erhöhen. In einem Lehrforschungsprojekt haben wir im Wiesbadener Westend untersucht, inwieweit dort bereits Nachhaltigkeitsstrategien praktiziert werden. Daran wird sichtbar, dass Nachhaltigkeit in Forschung und Lehre gleichermaßen längst Eingang gefunden hat.
Was möchten Sie Ihren Studierenden in Bezug auf Nachhaltigkeit in ihr zukünftiges Berufsleben mitgeben?
Ich wünsche mir, dass möglichst viele Studierende verstehen, dass Soziale Arbeit eine „Nachhaltigkeitsprofession“ ist. Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen verdeutlichen die Zuständigkeit Sozialer Arbeit in diesem Bereich. Dabei ist es entscheidend, Nachhaltigkeit nicht auf das Thema „Umwelt“ zu verengen. Der Faktor Zeit wird heute zum Beispiel häufig als Argument dafür genommen, Beteiligungsspielräume zu verengen: „Wir haben keine Zeit“, „der Klimaschutz kann nicht warten“ etc. Das ist völlig richtig. Nicht weniger plausibel ist jedoch meine These, dass wir nach hinten raus mehr gewinnen, wenn wir ausreichend Zeit für qualitativ anspruchsvolle Partizipationsformate einplanen, da nur so nachhaltige Akzeptanzstrukturen für Transformationen geschaffen werden können. Menschen, die im Alltag „andere Sorgen“ als das Thema Nachhaltigkeit haben, werden sich in diesem Bereich künftig eher engagieren, wenn sie konkrete Erfahrungen transformativer Selbstwirksamkeit machen. Der Fachbereich Sozialwesen der HSRM ist mit seinen unterschiedlichen Studiengängen und Modulen dafür prädestiniert, noch stärker als bisher Nachhaltigkeitsthemen in den Blick zu nehmen.
Gemeinsam mit vielen anderen Hochschulangehörigen haben Sie am Auftaktworkshop zur Nachhaltigkeitsstrategie der HSRM teilgenommen. Wieso liegt Ihnen das Thema am Herzen und was würden Sie sich zukünftig konkret für die nachhaltige Entwicklung unserer Hochschule wünschen?
Nachhaltigkeit bietet aus Sicht der Sozialen Arbeit die Gelegenheit, in der Geschichte „liegen gebliebene“ Themen von hoher gesellschaftlicher Relevanz in den Diskurs einzuspeisen. Was heißt das? Ich habe versucht klar zu machen, dass das Gelingen nachhaltiger Entwicklungen von vielen, sehr unterschiedlichen Faktoren abhängig ist. Am Ende des Tages haben all diese Diskurse aber mehr miteinander zu tun, als man meinen könnte. Das Thema Nachhaltigkeit legt zudem Widersprüche offen: Wenn ich in einem aktuellen wissenschaftlichen Beitrag für durchlässige Quartiersgrenzen werbe, um im Sinne der Neuen Leipzig Charta Zugänge zur gerechten Stadt zu gewährleisten, gilt diese Forderung freilich auch für die Außengrenzen der Europäischen Union und sichere Fluchtwege. Der urbane Maßstab hängt, trotz Eigensinn von Quartieren und Städten, mit dem globalen Maßstab zusammen. Bezogen auf unsere Hochschule wird die nachhaltige Entwicklung nach innen und außen bereits durch die fachbereichsübergreifende Zusammenarbeit beflügelt. Ich wünsche mir einen weiteren Ausbau dieser Netzwerke und eine auf vielfältige Weise gelebte Nachhaltigkeitsstrategie an unserer Hochschule.