„Nachhaltigkeit geht nur ganzheitlich“
Prof. Daniel Seiberts hat die Professur für Nachhaltigkeit und Entwerfen im Fachbereich Architektur und Bauingenieurwesen der Hochschule RheinMain (HSRM) inne und ist zudem als assoziierter Partner in einem Architekturbüro tätig. Im Interview erklärt er, warum nachhaltiges Bauen viel mehr als ressourcenschonende Neubauten bedeutet und wie er den nachhaltigen Campus der Zukunft gestalten würde.
Seit Oktober 2023 haben Sie die Professur für Nachhaltigkeit und Entwerfen inne. Womit beschäftigt sich diese im Kern und wie können ihre Inhalte zur nachhaltigen Entwicklung unserer Gesellschaft beitragen?
Bauen erfordert den Einsatz vieler Ressourcen. 90 Prozent der in Deutschland geförderten mineralischen Rohstoffe werden, nachdem sie dem Planeten oft mit hohem Aufwand abgerungen wurden, in Bauwerken zusammengetragen, und 40 Prozent der Primärenergie wird zur Errichtung von Gebäuden und deren Betrieb aufgewandt. Die Auswirkungen, die dieses Handeln inzwischen auf unser Ökosystem, auf unseren Lebensraum hat – und in der Folge auch auf die Gesellschaft – werden immer offenkundiger.
Es geht also darum, den Wert von Ressourcen zu erkennen und daraus einen verantwortlichen Umgang damit abzuleiten. Unsere Auseinandersetzung beginnt mit der Frage, wie viel wir eigentlich bauen müssen – können wir zum Beispiel Gebäude entwerfen, bei denen durch neue räumliche Konzepte weniger Wohnfläche pro Person gebaut wird und damit weniger Ressourcen benötigt werden? Daran schließt sich die Frage an, womit wir bauen – können wir mit Baustoffen aus schnell nachwachsenden Rohstoffen nicht nur Emissionen reduzieren, sondern sogar CO2 in maßgeblichen Mengen dauerhaft der Atmosphäre entziehen? Oder mit wiederverwendeten Baustoffen einen Beitrag zur Transformation vom linearen Wirtschaften zu einer Kreislaufwirtschaft leisten? Und schließlich stellt sich die Frage, wie effizient wir die Ressourcen bei der Errichtung und dem Betrieb von Gebäuden einsetzen.
Bauen heißt aber auch, die gebaute Umwelt zu gestalten, die uns in der Regel 24 Stunden am Tag umgibt. Es geht auch hier um die Verantwortung, die aus der Wechselwirkung zwischen Mensch und Gebautem entsteht, und um den gesellschaftlichen Auftrag, Städte, Häuser und Räume so zu entwerfen, dass sie nicht nur von uns Menschen angenommen und gemocht werden, sondern wir uns mit ihnen identifizieren und sie bestenfalls unser Leben bereichern. Es geht also um einen ganzheitlichen, integrierten und auch interdisziplinären Blick auf Nachhaltigkeit, was auch in der Denomination „Nachhaltigkeit und Entwerfen“ zum Ausdruck kommt, und genau das finde ich unglaublich spannend.
Ganz allgemein gesprochen – inwiefern wirken sich Nachhaltigkeitsaspekte auf Ihre Tätigkeiten in Forschung und Lehre an der HSRM, aber auch auf ihre Tätigkeit außerhalb der Hochschule als assoziierter Partner in einem Architekturbüro aus?
Nachhaltigkeit ist inzwischen kein Nischenthema mehr, sondern in der Gesellschaft breit verankert. Der nachhaltige Umgang mit Ressourcen spielt also in meiner beruflichen Praxis im Architekturbüro eine immer wichtigere Rolle. Das Erkennen von bereits vorhandenen Gebäuden als Ressource führt beispielsweise dazu, dass sich die Bauaufgaben unseres Büros immer häufiger mit Bestandsgebäuden auseinandersetzen. Ich halte das für eine sehr gute Entwicklung, denn die Verlängerung der Lebenszyklen ganzer Gebäude führt schließlich zur Vermeidung der Vernichtung grauer Energie durch Abbruch einerseits und Vermeidung eines erneuten Ressourcenverbrauchs durch Neubau andererseits. Durch das Bauen mit Bestand bleiben aber auch ideelle Ressourcen erhalten – beispielsweise die spezifische Identität eines Orts oder eines Gebäudes, die bauzeitliche Gestaltsprache oder die Geschichte eines Gebäudes, die mit den Biografien der Nutzer eng verwoben ist. Deswegen finde ich den thematischen Schwerpunkt unserer Hochschule im Bereich Architektur, insbesondere in unserem Masterstudiengang Architektur | Bauen mit Bestand, eine hervorragende und zukunftsweisende Sache. Wir haben an der HSRM damit ein gewisses Alleinstellungsmerkmal und bieten den Absolvent:innen eine sehr gute Basis für ihren Schritt ins Berufsleben – abgesehen davon, dass wir damit einen Beitrag sowohl zur Diskussion in der Fachwelt als auch zur allgemeinen gesellschaftlichen Debatte leisten können.
Im aktuellen Entwurfsprojekt des Masterstudiengangs bearbeiten wir zum Beispiel das Bürgerhaus in Mainz-Kastel. Hier geht es darum, wie in eine bauliche Struktur mit einem riesigen Veranstaltungssaal für 800 Zuschauer:innen eine ganz konträre Nutzung mit komplett anderen räumlichen und konstruktiven Anforderungen weitergebaut werden kann – indem dort dringend benötigter Wohnraum geschaffen werden soll, ohne dass das bestehende Gebäude mit der gesamten eingespeicherten grauen Energie abgerissen werden muss. Es geht hier aber auch um die Frage, was ein solcher Umbau mit dem Ort macht, und um die Wechselwirkungen zwischen dem umgebauten Gebäude und der gewachsenen baulichen und gesellschaftlichen Struktur der Nachbarschaft.
Aber auch im Neubau werden Nachhaltigkeitsaspekte immer wichtiger und werden uns im Büro – anders als noch vor einigen Jahren – von den Bauherren zunehmend als grundsätzliche Anforderung ins Lastenheft geschrieben. Die meisten unserer Projekte befinden sich in Baden-Württemberg. Hier müssen – wenn nicht wichtige Gründe dagegensprechen – Neubauten des Landes inzwischen in Holzbauweise errichtet werden. Zudem sind die Vorgaben des Programms „Nachhaltiges Bauen Baden-Württemberg“, in dem beispielsweise die Verwendung von Recyclingbeton gefordert wird, Voraussetzung für die Landesförderung kommunaler Gebäude wie zum Beispiel Schulen. Es ist also sehr viel in Bewegung und das wird auch die nächsten Jahre in vielerlei Hinsicht so bleiben. Zirkuläres Bauen, also die Wiederverwendung gebrauchter Bauteile, wodurch der Verbrauch neuer Ressourcen reduziert und wertminderndes Downcycling vermieden wird, ist ein aktuell sehr intensiv diskutiertes Thema. Ebenso die ausgeweitete Verwendung schnell nachwachsender Rohstoffe wie Stroh oder Hanf oder die Entwicklung alternativer Baustoffe, sei es auf Basis von Rezyklaten oder biogenen Bindemitteln wie Algenmycel. Wir als Architekt:innen werden uns also wieder stärker auf das Konstruieren konzentrieren müssen – Materialgerechtigkeit, Angemessenheit, Langlebigkeit oder Wertigkeit, um nur ein paar Schlagworte zu nennen, werden meiner Einschätzung nach die Gestalt von Gebäuden stärker prägen, als dies bei vielen eher formal geprägten, selbstbezogenen Entwürfen der letzten Dekaden der Fall war.
Was möchten Sie Ihren Studierenden in Bezug auf Nachhaltigkeit mit in ihre berufliche Zukunft geben?
Ich hoffe, dass die Studierenden aus meinen Lehrveranstaltungen mit der Haltung herausgehen, dass sie durch ihr Handeln als Gestaltende der gebauten Umwelt einen positiven Beitrag zur Lösung der Fragestellungen unserer Zeit leisten können. Wenn die Studierenden also Nachhaltigkeit nicht als lästiges Pflichtprogramm verstehen oder als Checkliste und Rechenübung, die es für das Erlangen eines Nachhaltigkeitssiegels zu absolvieren gilt, sondern vielmehr als Chance, die erforderlichen Transformationsprozesse aktiv und positiv mitzugestalten, dann habe ich für mich persönlich schon viel erreicht. Ich sehe Nachhaltigkeit als Chance, gegen Beliebigkeit und Wegwerfmentalität anzugehen und gute Räume zu schaffen, in denen Menschen gerne leben.
Wie sieht für Sie aus architektonischer Perspektive der nachhaltige Campus der Zukunft aus?
Nachhaltigkeit hört für mich nicht damit auf, bei Neubauten auf einen verantwortlichen Einsatz von Ressourcen zu achten und möglichst wenig Energie zum Betreiben der Gebäude zu verwenden. Ich denke, das sollte inzwischen eine Selbstverständlichkeit sein, ebenso wie eine bessere Erreichbarkeit mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, schattenspendendes Grün und Resilienz für klimatische Extremsituationen. Das Allerwichtigste ist aus meiner Sicht, dass der Campus ein „guter Ort“ ist – ein Ort, an dem durch bauliche Wertigkeit eine Wertschätzung gegenüber den Studierenden, Lehrenden und Mitarbeitenden sichtbar wird, ein Ort, an dem man sich gerne aufhält, an dem Kommunikation und Austausch gefördert werden und der Inklusion und Partizipation ermöglicht. Eine große Offenheit und Zugänglichkeit möglichst rund um die Uhr (bei uns Architekt:innen wird es abends schon mal später) und ein räumliches Angebot zur Aneignung würde dies auch unterstützen. Es ist also aus meiner Sicht wesentlich, die Räume – und damit meine ich nicht nur Innenräume, sondern den Campus als Gesamtanlage – gut zu gestalten und sorgfältig mit dem umzugehen und zu pflegen, was bereits vorhanden ist. Dann kann der Campus seiner Aufgabe als Ort des nachhaltigen Lernens gerecht werden.
Was würden Sie sich für die nachhaltige Entwicklung unserer Hochschule im Allgemeinen wünschen?
Die Nachhaltigkeitsentwicklung sollte meiner Meinung nach von den Chancen und Potentialen zur positiven Veränderung getragen werden, mit neugierigem Forschergeist und Offenheit gegenüber Transformationsprozessen. Wenn daraus Nachhaltigkeit als gelebte, selbstverständliche Wirklichkeit deutlich erkennbar wird, ohne, dass hierfür Evaluierungen, Zielvereinbarungen und Strategien allzu sehr ins Schaufenster gestellt werden müssen, fände ich das eine tolle Entwicklung.